Text zu meinem Werk
Liebe Freundin, lieber Freund
Nach langer Zeit treffen wir uns wieder. Wir können nie vorhersagen, wann und wo wir uns treffen werden. Dieses Mal ist es etwas Besonderes, und es fällt mir nicht leicht zu wissen, wo ich anfangen soll.
Wir sind in der Friedensgasse, einer Gasse parallel zur Gerechtigkeitsgasse. Es gibt zwei Gründe, die mich an Gerechtigkeit und Frieden faszinieren: Erstens bin ich ein politischer Geflüchteter, der im Exil lebt, und zweitens arbeite ich als dekolonialer Kunstaktivist an Kunstprojekten, die darauf abzielen, den Stereotypen, die Immigrant:innen umgeben, entgegenzuwirken. Die 15 Jahre im Exil haben mir geholfen, meine persönlichen Erfahrungen zu analysieren und zu versuchen, dekoloniale Theorien/Kunst und die Hintergründe meines Exils zu verstehen.
Lass mich auf dem Hintergrund meines Exils über Frieden sprechen, der auch mit diesem bedeutenden Tisch zusammenhängt, über den ich später sprechen werde. Verzeih mir, mein:e Freund:in, denn es ist ein so breites Thema. Als Betroffener fällt es mir schwer, klar über meine Erfahrungen und Emotionen zu schreiben.
Lass uns im Ausstellungsraum Friedensgasse kurz über Frieden reden: In allen Sprachen ist das Wort "Frieden" von besonderer Schönheit. Die Menschheit hat immer erkannt, dass Frieden eine grundlegende Voraussetzung für wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand ist. Besonders im 20. Jahrhundert hat der Frieden als moralischer Wert und als Grundlage für soziale und politische Entwicklung an Bedeutung gewonnen. Die schrecklichen Zerstörungen der beiden Weltkriege haben die Notwendigkeit eines friedlichen Lebens verdeutlicht.
Im 21. Jahrhundert strebt die Welt nach Demokratie und Freiheit. Frieden muss überall etabliert werden, um politische und soziale Fragen friedlich zu lösen. Die Lösungen, die durch Krieg entstehen, sind oft weniger effektiv als friedliche Ansätze. Die kurdische Frage ist seit langem ein ungelöstes Problem. Kurden leben im Nahen Osten mit Türk:innen, Araber:innen und Perser:innen zusammen und werden weiterhin in dieser Region existieren.
Die Beziehungen zwischen Türk:innen und Kurd:innen haben eine komplexe Geschichte. Die Türkei konnte nach dem Ersten Weltkrieg ihre Unabhängigkeit gewinnen, auch dank der Unterstützung der Kurd:innen. Doch die Beziehungen verschlechterten sich ab 1924. Nach dem ersten Weltkrieg konstituierte sich der moderne türkische Nationalstaat unter der Führung einer Militärelite aus der alten osmanischen Armee. Unter dieser Militärelite hatte Mustafa Kemal, ein bekannter Offizier in der Verteidigung des osmanischen Gebiets im Ersten Weltkrieg, eine Führungsrolle. Er wurde später Atatürk (Vater der Türk:innen) genannt und wird bis heute als Begründer des modernen Nationalstaats verehrt.
Der moderne türkische Nationalstaat brachte die Unterdrückung verschiedener Kulturen und Völker mit sich, die im osmanischen Reich Platz gefunden hatten. Die Unterdrückung dieser kulturellen Vielfalt sollte der Entstehung einer homogenen Nation, mit einer einzigen Sprache und Identität dienen. Das kurdische Volk, das seit tausenden Jahren in Mesopotamien lebt, wurde zum Opfer dieser ideologischen Absicht gemacht. Die Kurd:innen liessen sich aber nicht unterwerfen und seitdem leisten sie Widerstand gegen die türkischen Hegemonieabsichten.
Der Tisch ist aus diesen Gründen in meinem Gedächtnis als machtstrukturelles Objekt verankert, das mit schmerzlichen Erfahrungen verbunden ist.
Die Installation «Assemblage aus Erinnerungen II», die ich in der Ausstellung «And Other Instruments. Decolonize the Table. Molecules of Collective Memory in Exile» in der Friedensgasse präsentiert habe, besteht aus Archiv-Materialien des historischen Kontexts vom Geschehen um den Tisch, auf dem 1923, also vor genau 100 Jahren, der Lausanner Vertrag unterzeichnet wurde und der 2008 als «Gesture of Goodwill» von der Schweiz der Türkei geschenkt wurde. Das Ziel der Arbeit ist es, ästhetisch auf die aktuelle politische Situation in Kurdistan zu reagieren.
Sie befasst sich mit der Politik des Zeigens in Zeiten der Entkolonialisierung. Sie verbindet Kunst und Aktivismus, indem sie sich auf die komplexe politische Situation der kurdischen Bevölkerung in der Osttürkei sowie der über ganz Europa verstreuten Immigrant:innen aus dem Nahen Osten konzentriert. Meine persönliche Erfahrung als kurdischer politischer Geflüchteter aus der Türkei hat das Bedürfnis geweckt, die besondere Geschichte dieses Objekts zu konfrontieren und zu dekolonialisieren.
Das Spannungsfeld von Theorie und Erfahrung, das sich immer wandelt, lässt mich bei diesem Thema bleiben, das ich seit 2010 verfolge. Die neuen Erfahrungen und theoretischen Inputs halten mich wach in meiner Selbstbefragung. Mit dieser Arbeit möchte ich mich diesen Fragen weiter annähern und zu mehr Klarheit kommen. Es sind die Fragen, die mich angehen und treffen, hier und jetzt, in meinem Leben im Exil. In meiner theoretischen/dekolonialen Kunstpraxis will ich mein Engagement verstärken und meinen dekolonialen künstlerischen Aktivismus mit verschiedenen Medien weitertreiben.